Die Umgestaltung der EU-Wirtschaft für eine nachhaltige Zukunft

Klimawandel, Klimakrise, Klimaschutz … Es vergeht kaum ein Tag, an dem das Wort „Klima“ nicht in irgendwelchen Schlagzeilen auftaucht. Die Klimakrise wurde neben der Pandemie zum Topthema der gesellschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit und hat dem - zufolge auch Einzug in die Politik genommen. Im Dezember 2019 stellte die damals neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den „Green Deal“ vor und legte damit nach gerade einmal 11 Tagen im Amt neue Klimaziele für Europa fest. Bis zum Jahr 2050 soll die EU vollständig klimaneutral wirtschaften, das heißt unterm Strich gar keine Emissionen mehr verursachen. Auch eine Verschärfung des Klimaziels für 2030 war gleich in Planung: 55 Prozent Treibhausgasreduktion verglichen mit dem Basisjahr 1990. Im Jahr 2020 folgte dann sogleich die ersten Vorarbeiten, seither laufend Weichenstellungen zur Erreichung der Ziele.

Die EU Chemikalienstrategie

Innovations- und Wachstumsimpulse zur Umsetzung des Green Deals notwendig

Die EU-Kommission möchte Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen und nachhaltigen Kontinent machen.

Die EU-Kommission möchte Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen und nachhaltigen Kontinent machen. Ziel des ehrgeizigen Maßnahmenpakets, das noch vor Beginn der Corona-Pandemie vorgestellt wurde, ist der grundlegende Umbau von Industrie, Energieversorgung, Verkehr und Landwirtschaft. Dabei geht es um weit mehr als Treibhausgasneutralität. 

In ihren Plänen hat die Behörde ein generelles Null-Schadstoff-Ziel vorgesehen. Als wesentlichen Baustein zu dessen Verwirklichung hat die EU-Kommission Mitte Oktober 2020 die „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“ vorgestellt. Dort sind mehr als 50 Einzelmaßnahmen beschrieben, was die ambitionierten Ziele des Green Deals zusätzlich unterstreicht.  

Künftig sollen nur noch sichere und nachhaltige Chemikalien bei der Produktion von Alltagsgegenständen verwendet werden. Schadstofffreie Werkstoffkreisläufe sollen entstehen. Dafür möchte die EU-Kommission den Rechtsrahmen stärken, vereinfachen und ausbauen. Die umfassende Wissensbasis über Chemikalien, die unter REACH bereits vorhanden ist, soll weiter ausgebaut werden. Nicht zuletzt wird eine europäische Führungsrolle beim internationalen Chemikalienmanagement angestrebt.  

Welche drastischen Änderungen des Chemikalienrechts geplant sind erfahren Sie hier.

 

Fit for 55

Der Weg zur Klimaneutralität

Einen wesentlichen Schwerpunkt des im Dezember 2019 von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierten Europäischen Green Deal (EGD) stellen die Politikbereiche Energie und Klima dar. Wichtigstes Ziel: Bis 2050 sollen keine Netto-Treibhausgasemissionen mehr freigesetzt werden. Europa soll der erste klimaneutrale Kontinent werden und Innovationen sollen bei der Zielerreichung eine Schlüsselrolle spielen. Die Kommission sieht den Green Deal als Wachstumsstrategie, mit der die EU zu einer fairen und wohlhabenden Gesellschaft mit einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft werden soll.  

 

Mit dem am 14. Juli 2021 vorgestellten „Fit for 55“-Paket möchte die Europäische Kommission eine Senkung des Treibhausgasausstoßes um mindestens 55 Prozent bis 2030 erreichen. Es enthält Entwürfe für zwölf Gesetzgebungsverfahren, die der Umsetzung der Ziele des „European Green Deal“ dienen. Sie sollen in den kommenden Monaten und Jahren parallel verhandelt und verabschiedet werden. Dieses ambitionierte Programm für den umwelt- und klimafreundlichen Umbau der europäischen Wirtschaft, das die damals neue EU-Kommission 2019 entwickelt hatte, wird auch vom Europäischen Parlament und Rat mitgetragen. Über das Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent hinaus wird die Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 angestrebt. Konkret bedeutet das: in knapp drei Jahrzehnten dürfen in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen nur noch minimale Restemissionen anfallen, die dann durch Senken bilanziell neutralisiert werden sollen („net zero“). Die Ziele des neuen Pakets gehen weit über das „Clean Energy for Europe“- Paket hinaus, das erst 2019 abgeschlossen wurde.

Zentrale Vorhaben im "Fit for 55"-Paket sind – neben der Aufteilung des -55%-Ziels auf die Mitgliedsstaaten im Rahmen der Lastenteilungs-Verordnung (Effort Sharing) - die Umgestaltung des europäischen Emissionshandels einschließlich des neuen Instruments eines CO2-Grenzausgleichs (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) zur Vermeidung von Carbon Leakage, die Überarbeitung der Energieeffizienz- und der Erneuerbaren-Richtlinie, eine Verschärfung der CO2-Flottengrenzwerte für PKW und leichte Nutzfahrzeuge, sowie ein Vorschlag zur stärkeren Harmonisierung der Energiesteuern. Für alle Unternehmen relevant sind steigende CO2- Preise und damit ein deutlich höherer Druck, Energieverbräuche zu senken, erneuerbare Energieträger stärker zu nutzen und emissionsarme Prozesse zu entwickeln und zu implementieren.

Mit diesem Paket kommen in den nächsten Jahren massive Herausforderungen auf die chemische Industrie zu. Die Branche ist mit ihrer Schlüsselrolle für den Klimaschutz in besonderem Maße von den Vorschlägen betroffen: Einerseits brauchen alle Green Deal-Lösungen wie Sonnenkollektoren, Batterien, Windturbinen und Wasserstoff bis hin zu Gebäudeisolierungen Stoffe und Innovationen aus der chemischen Industrie, andererseits ist deren Herstellung teilweise energieintensiv. Ziel muss es daher sein, den Unternehmen in der EU die Chancen zu ermöglichen, die Technologieführerschaft bei der Transformation der Wirtschaft zu übernehmen. Gleichzeitig gilt es jedoch, die lose-lose Situation zu verhindern, dass Verschärfungen der EU-Vorgaben zu Produktionsverlagerungen in Länder mit niedrigen Umweltstandards außerhalb der EU führen, was die heimische Wirtschaft schwächen und die globale Klimabilanz deutlich verschlechtern würde. Ohne Lösungen der chemischen Industrie sind die Klimaziele der EU nicht erreichbar. Die vorgeschlagenen Maßnahmen müssen daher so ausgestaltet werden, dass der Innovations- und Produktionsstandort Europa gestärkt wird und unsere Unternehmen ihr volles Potenzial für den Klimaschutz ausschöpfen können.

Innovationen sind der Schlüssel zur Klimaneutralität

Der entscheidende Faktor für die Erreichung der Klimaziele sind nicht Verbote, sondern die Entwicklung neuer Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen, wie zum Beispiel Carbon Capture and Usage (CCU) oder chemisches Recycling. Der vermehrte Einsatz von Biomasse kann ebenfalls zu einer Dekarbonisierung des Sektors beitragen. Um einen raschen Einsatz von Innovationen zu ermöglichen, braucht es eine Erhöhung der Forschungsförderungen, kürzere Genehmigungsverfahren für Projekte sowie effektive Investitionsanreize für den Einsatz im industriellen Maßstab. Auch die Verfügbarkeit von ausreichend erneuerbarer Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen ist von zentraler Bedeutung für die Transformation der Wirtschaft. Nur mit genügend nachhaltigem Strom können fossile Energieträger durch grünen Wasserstoff für die Produktion von chemischen Grundstoffen ersetzt werden. Weiter forciert werden muss auch die Kreislaufwirtschaft, die zu einer starken Absenkung von CO2-Emissionen führt, insbesondere bei Kunststoffen. Allein in Österreich ist dadurch ein Einsparungspotenzial von jährlich bis zu 2,4 Millionen Tonnen CO2 möglich.

Klimazölle dürfen den Emissionshandel nur ergänzen, nicht ersetzen

Die einseitige Verschärfung von Klimaschutzzielen führt zwangsläufig zu Wettbewerbsnachteilen gegenüber Herstellern in Drittstaaten, die günstiger produzieren können. Um europäische Unternehmen vor Carbon Leakage zu schützen, gibt es bisher Ausgleichsmechanismen im Rahmen des Emissionshandels, wie etwa die Zuteilung von Gratiszertifikaten. Diese könnten im Zuge der geplanten Einführung eines CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) wegfallen. Die vorgeschlagenen Klimazölle auf den Import von Waren aus Drittländern würden zwar bei Endprodukten einen Schutz am europäischen Markt bringen, nicht aber bei Vorprodukten, die in der EU weiterveredelt und anschließend exportiert werden. Deren Verteuerung würde die Wettbewerbsfähigkeit von großen Teilen der europäischen Industrie, wie beispielsweise der Düngemittelbranche, auf Drittmärkten massiv beeinträchtigen. Auch höhere Kosten für den Import von Rohstoffen durch Klimazölle wirken sich negativ auf die Unternehmen aus, da sie Exporte verteuern. Hinzu kommen noch mögliche Handelskonflikte durch CBAMs als weiteres Risiko. Es ist für energieintensive Unternehmen entscheidend, dass die Zuteilung von Gratiszertifikaten bestehen bleibt und Klimazölle nur ergänzend eingeführt werden. Zusätzlich muss der Grenzausgleichsmechanismus so ausgestaltet werden, dass er nicht zu Nachteilen beim Export von Produkten führt.

Die Industriestrategie

Ein Bekenntnis zur Wettbewerbsfähigkeit

Mit ihrer „Neuen Industriestrategie für Europa“ legt die Kommission dar, wie sie sich die Entwicklung der Industrie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vorstellt. Dabei wurden drei Schlüsselprioritäten formuliert: die Erhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und gleicher Wettbewerbsbedingungen in der EU und weltweit, ein klimaneutrales Europa bis 2050 und die Gestaltung der digitalen Zukunft Europas.  

 

Die Industriestrategie kann als Grundlage für die Umsetzung einer Industriepolitik gesehen werden, um die Transformation des europäischen Green Deal in der EU-Industrie zu beschleunigen. Es wird darauf ankommen, welche konkreten Maßnahmen umgesetzt werden, um diese Ziele zum Wohl aller Europäerinnen und Europäer sowie der europäischen Unternehmen zu erreichen. Positiv ist anzuerkennen, dass die Kommission die große Bedeutung der europäischen Industrie für unseren Kontinent anerkennt. Erfreulich ist die Einrichtung eines Industrieforums, bei dem die Vertreter der Sozialpartner der Industrie (einschließlich KMU), Wissenschaftler sowie die Mitgliedstaaten und EU-Institutionen gemeinsam über mögliche Maßnahmen beraten.  

Um einen starken und gut funktionierenden EU-Binnenmarkt zu bewahren, will die Kommission Importe verstärkt kontrollieren, um jene, die den EU-Vorschriften nicht entsprechen, rascher zu identifizieren. Die bessere Durchsetzung in diesem Bereich soll insbesondere durch den Einsatz digitaler Lösungen und Tools zur Erkennung und Bekämpfung nicht konformer Produkte erfolgen. Auch hier bleibt abzuwarten, wie die konkrete Umsetzung vonstattengehen soll.  

Die chemische Industrie begrüßt die Schaffung wichtiger Allianzen in der Wertschöpfungskette, einschließlich der Allianz für kohlenstoffarme Industrien und der Allianz für sauberen Wasserstoff, um ein nachhaltiges und wettbewerbsfähiges Ökosystem von EU-Unternehmen zu entwickeln, die an diesen strategischen Technologien arbeiten. Unternehmen und Behörden sollen hierbei Hand in Hand arbeiten, um erforderliche Technologien, Investitionsbedarf und regulatorische Hürden zu identifizieren 

Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Vorschläge tatsächlich zur Lösung von Problemen auf Unternehmensebene oder im Umgang mit Vollzugsbehörden beitragen. Nur wenn es der Kommission gelingt, die Mitgliedstaaten bei der Auslegung der EU-Rechtsvorschriften angemessen zu leiten und Umsetzungs- und Durchsetzungsprobleme anzugehen, wird dieses Maßnahmenpaket nützlich werden.  

Dabei muss klar sein: Es gibt keinen europäischen Green Deal ohne eine starke europäische Industrie der Zukunft. Vor allem auch die chemische Industrie spielt beim Wandel zu einer nachhaltigeren Zukunft eine wesentliche Rolle, da sie bei beinahe allen nachhaltigen Schlüsseltechnologien involviert ist. Eine grüne Zukunft der EU ist nur mit einer starken chemischen Industrie möglich. 

Farm to Fork-Strategie: Innovation ist der Schlüssel für eine nachhaltige Landwirtschaft

Die Europäische Kommission hat mit der Farm to Fork-Strategie ambitionierte Ziele vorgelegt. Gemeinsam sollen nachhaltige Lösungsansätze gefunden werden, die einerseits zur Verbesserung des Klimaschutzes und der biologischen Vielfalt beitragen und andererseits die Produktivität der europäischen Landwirtschaft und die Versorgung mit sicheren und nachhaltig produzierten Lebensmitteln ermöglichen. Grundsätzlich begrüßt der FCIO diese Initiative, sie bedarf jedoch einer ganzheitlichen Betrachtung sowie in zentralen Bereichen einer weitergehenden Differenzierung. Nicht zuletzt verdeutlichen Corona-Krise und Ukraine-Krieg den Bedarf an einer sicheren, regionalen Versorgung.

Produktive Landwirtschaft ermöglichen

Die Industrie liefert Lösungen für alle Pflanzenbaumodelle – vom biologischen bis hin zum konventionellen Anbau. Risiko- und Mengenreduktionen bei Pflanzenschutz- und Düngemitteln sind wichtige Bestandteile der integrierten Produktion und werden vom FCIO vor allem dann anerkannt, wenn sie fachlich fundiert und realistisch sind sowie die Vorleistungen der einzelnen Mitgliedsstaaten berücksichtigen.

Die Farm to Fork-Strategie sieht vor, dass mindestens 25 % der EU-Agrarfläche ökologisch zu bewirtschaften sind. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, dass Studien eine geringere Ertragsleistung für den biologischen Anbau ausweisen, weshalb mehr landwirtschaftliche Fläche benötigt würde, um die gleiche Menge an qualitativ hochwertigen Lebensmitteln zu produzieren. Außerdem sind die Aufwandmengen von Pflanzenschutzmitteln im biologischen Anbau in der Regel höher was zwangsläufig zu einer Zunahme der Einsatzmengen führen würde. Zu beachten ist auch, dass ein Wachstum im Bio-Bereich gemeinsam mit dem Markt entwickelt und an der Nachfrage ausgerichtet werden soll.

Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Stilllegung von 10 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche würde eine ökonomisch nachhaltige Produktion zusätzlich erschweren und der Landwirtschaft die Flexibilität nehmen auf Marktbedürfnisse reagieren zu können.

Die Reduzierung der Düngemittelmenge um 20 % gefährdet die Bodenfruchtbarkeit. Der Zweck der Düngung ist es, den Nährstoffbedarf der angebauten Pflanzen durch Zugabe der richtigen Art und Menge von Pflanzennährstoffen auf Grundlage des erwarteten Ertrags, des Pflanzenwachstums und der Bodenanalyse zu decken. Nicht alle Nutzpflanzen haben den gleichen Bedarf. Mit der Ernte werden die im Erntegut gebundenen Nährstoffe von den Feldern abtransportiert, dies muss anschließend durch Düngung ausgeglichen werden. Wenn der Entzug von Pflanzennährstoffen im Durchschnitt größer ist als die Zufuhr, führt dies zu einer Auslaugung des Bodens.

Innovationen fördern

Die Forschung und Entwicklung neuer Produkte sowie der Einsatz von innovativen Technologien werden bereits jetzt durch die regulatorischen Rahmenbedingungen erschwert. Die ausreichende Vielfalt und Verfügbarkeit von effizienten Wirkstoffen ist jedoch dringend erforderlich, da aufgrund des Klimawandels ein verstärkter Krankheits- und Schädlingsdruck absehbar ist.

Die Industrie nimmt ihre Verantwortung wahr und plädiert für eine bessere Umsetzung bestehender Rechtsvorschriften und die Etablierung geeigneter Rahmenbedingungen, um in die Forschung und Entwicklung innovativer Pflanzenschutzmittel investieren zu können. Darüber hinaus bedarf es entsprechender Anreiz- und Unterstützungsmodelle sowie verstärkter Bildung und Beratung.

Folgenabschätzung gefordert

Um die angestrebten Ziele zu erreichen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die europäische Landwirtschaft weiterhin auf hohem Niveau produzieren kann, ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich. Der FCIO spricht sich daher für eine unabhängige und umfassende Folgenabschätzung aus – noch bevor jegliche gesetzliche Entscheidungen getroffen werden.